Das deutsche Wirtschaftsmodell in der Kritik

Die deutsche Wirtschaft, die lange Zeit als Vorbild galt, schwächelt. Kann sie nach den Wahlen Ihren Wettbewerbsvorteil zurückgewinnen?

Zwischen 2005 und 2017, als in den meisten europäischen Volkswirtschaften die Bedeutung der Industrie zurückging und die Exportmarktanteile sanken, zeichnete sich Deutschland durch eine leistungsstarke Industrie, hohe Marktanteile - und einen seriösen Haushalt - aus. Während dieser Zeit ist das deutsche BIP um 10% schneller gewachsen als das der anderen Länder der Eurozone[1]. Deutschland und sein Sozialmodell der Mitbestimmung gelten seit langem als Vorbild.

Doch bereits Mitte der 2000er Jahre kamen Fragen über die Zukunft des rheinischen Kapitalismus auf. Die Forschungsergebnisse von F. Pesin und C. Strassel[2] waren gravierend: wirtschaftlicher Erfolg in " trompe-l'œil ", eine Wettbewerbsfähigkeit ohne Wachstum, Schüler, deren Leistungen unter den Durchschnitt der OECD-Länder gefallen sind, ein Ausbildungssystem, das ernsthafte Anzeichen von Atemlosigkeit zeigt...

Zwanzig Jahre später scheint der Befund noch beunruhigender zu sein. Die deutsche Wirtschaft kommt nicht mehr voran und scheint sich sogar von ihren europäischen Partnern abzukoppeln. Während die meisten Länder der Eurozone heute wieder ihren Wachstumstrend von vor der Covid-Krise erreicht haben, liegt das BIP Deutschlands mehr als 6% darunter[3]: real ist es seit 2019 nicht mehr gewachsen! Der Konsum der privaten Haushalte stagnierte, die Investitionen in Wohnimmobilien sind um 10% geschrumpft, und obwohl die Investitionen in geistige Eigentumsrechte (R&D) um 10% stiegen, sanken die Gesamtinvestitionen der Unternehmen um etwa 5%. Der Export, die tragende Säule der deutschen Wirtschaft, steht seit ... 2017 still. Schlimmer noch: Wie zuvor Italien, Frankreich oder Spanien verliert auch Deutschland Marktanteile.

Industrie in Slow Motion

Als Wachstumsmotor ist die deutsche Industrie ins Stocken geraten. Der Automobilsektor – der fast 5% des BIP und 16% der Warenexporte[4] ausmacht und bereits durch den Skandal um Dieselgate angeschlagen ist, sieht sich mit einer schwachen Nachfrage in Europa konfrontiert: Für viele Verbraucher sind die Spitzenmodelle zu teuer und in den großen Metropolen aufgrund der Verkehrsbeschränkungen immer unbeliebter. Der Sektor sieht sich auch mit einer sinkenden Nachfrage in China und der Konkurrenz durch chinesische Hersteller konfrontiert, deren Preise viel wettbewerbsfähiger sind - und die nun mit den deutschen Herstellern auf eigenem Boden konkurrieren, insbesondere bei Elektrofahrzeugen. Die steigenden Energiepreise haben natürlich nicht geholfen: Seit Anfang 2022 ist die Industrieproduktion in energieintensiven Sektoren - insbesondere der Chemiebranche, die fast 4% des BIP ausmacht und 17% der Exporte liefert[5] - um fast 20% zurückgegangen.

Dringender Investitionsbedarfn

Die Schlussfolgerungen eines aktuellen Berichts des BDI - des Bundesverbands der Deutschen Industrie - fassen die Ratlosigkeit, in der sich die deutsche Industrie befindet, gut zusammen: Ohne eine Investitionsanstrengung von 1 400 Milliarden Euro bis 2030 - ein Betrag, der fast doppelt so hoch ist wie der europäische Plan " Next Generation EU " - wird es der deutschen Industrie nicht gelingen, wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dieser Alarmruf einer Organisation, die traditionell den freien Handel und den freien Wettbewerb befürwortet, ist umso erstaunlicher, als der Bericht vorschlägt, dass ein Drittel der Mittel bereitgestellt werden sollte... aus öffentlichen Mitteln! Wird dieser Aufruf zu massiven Investitionen in den nächsten Jahren von den führenden Politikern Deutschlands erhört werden? Werden die Schwierigkeiten seiner Industrie Deutschland dazu bringen, seine Haushaltsbremse zu lösen und mehr im Inland zu investieren, um dem Land zu helfen, wieder an Attraktivität zu gewinnen? Die Tatsache, dass Bundeskanzler Olaf Scholz schließlich beschlossen hat, sich von seinem Finanzminister Christian Lindner zu trennen, der sich auf die Verteidigung der Haushaltsbremse versteift hat, könnte darauf hindeuten, dass zumindest ein Teil der politischen Führung in Deutschland in diese Richtung gehen möchte.

Wirtschaftspolitik, ein zentrales Thema bei den nächsten Wahlen?

Sowohl die Bundesbank als auch der Sachverständigenrat - der Wirtschaftsrat der Weisen - scheinen ebenfalls eine Reform zu befürworten, die die Flexibilität der Haushaltspolitik etwas erhöht, ohne die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zu gefährden. Das Zeitfenster, um dies zu erreichen, ist jedoch eng. Der politische Kurs in Deutschland wird voraussichtlich in vorgezogenen Neuwahlen (geplant für den 23. Februar 2025) gipfeln, bei denen die jüngsten Umfragen zufolge die FDP, die AFD und die BSW, die alle gegen jegliche Reform sind, eine Sperrminorität erhalten würden. Friedrich Merz, Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union (CDU), der derzeitigen Oppositionspartei, ist sich des Risikos bewusst, dass er im neuen Bundestag keine qualifizierte Zweidrittelmehrheit erreichen wird, und scheint daher zunehmend bereit, noch vor den Wahlen über eine Reform der Haushaltsbremse zu diskutieren. Dies würde der nächsten Regierung unbestreitbar etwas mehr Luft verschaffen, die laut den letzten Umfragen immer noch von der CDU angeführt werden könnte! Außerdem könnte verhindert werden, dass eine unnötige restriktive Finanzpolitik die ohnehin schon schwächelnde Wirtschaft weiter belastet.

Es bleibt abzuwarten, ob die Deutschen die nötige Weitsicht besitzen werden, Parteien an die Macht zu bringen, die bereit sind, in die materielle und soziale Infrastruktur zu investieren, die es Deutschland morgen ermöglichen wird, wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das ist zu wünschen, natürlich für Deutschland, aber auch für Europa...

 

[1] Quelle: Eurostat
[2] F. Pesin und C. Strassel, Das deutsche Wirtschaftsmodell in der Kritik, Economica, 2006.
[3] Quelle: Eurostat (alle Daten in diesem Abschnitt)
[4] Quelle: Eurostat
[5] Quelle: Eurostat

  • Florence Pisani, PhD
    Florence Pisani, PhD
    Chief Economist
  • Stefan Keller, PhD, CFA
    Senior Multi-Asset Strategist

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