Impfstoffe sind heute der beste Schutz gegen Infektionskrankheiten und gewisse Krebsarten. Es besteht ein immenser, vielfältiger Bedarf. Entsprechend zahlreich sind die Entwicklungsperspektiven, sowohl in präventiver als auch in therapeutischer Hinsicht. Die neuen Technologien könnten sogar neue Vorteile für die Forschung und Produktion sowie im Hinblick auf den Zugang bringen.
Es ist unbestritten, dass die Impfung eine der größten Errungenschaften der modernen Medizin ist. Viele ehedem tödliche Infektionen konnten unter Kontrolle gebracht oder gar ausgerottet werden. Pocken, die im letzten Jahrhundert 300 Millionechwanden vor vierzig Jahren vollständig von der Erdoberfläche. Die Kinderlähmung (Polio), eine weitere tödliche Infektionskrankheit, könnte bald folgen. In Südostasien ist sie bereits ausgerottet. Die Region wurde vor drei Jahren offiziell für poliofrei erklärt.
Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten, Masern, Hirnhautentzündung, Lungenentzündung, Grippe - mehrere Dutzend Impfstoffe haben es bereits ermöglicht, einen sehr großen Teil der Weltbevölkerung gegen gefährliche Infektionskrankheiten zu immunisieren, oder zumindest ihre Auswirkungen zu mildern. Nach Angaben der WHO rettet die Impfung jährlich zwei bis drei Millionen Menschenleben. In Anbetracht des erwähnten Bedarfs und der damit verbundenen Kosten ist die Impfstoffforschung eine der rentabelsten Investitionen im Gesundheitsbereich. Alle Länder und alle Altersgruppen sind betroffen.
Auch wenn sie von einem Teil der öffentlichen Meinung angefochten werden, sind Impfstoffe das einzige brauchbare Bollwerk gegen das Epidemierisiko. Die seit mehreren Jahren stetig sinkende Durchimpfungsrate ist zu einem wichtigen Thema geworden, schon allein um das Wiederaufleben bestimmter rückläufiger Krankheiten wie Mumps, Röteln und Masern zu verhindern, deren Fallzahlen in den letzten vier Jahren gefährlich angestiegen sind1. Im Zusammenhang mit Impfungen ist keine Nachlässigkeit erlaubt. Die Regel ist einfach: Die Zielgruppe muss quasi vollständig durchgeimpft werden, sonst kehrt das Virus mittel- oder langfristig wieder zurück. Die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft festgelegte kritische Schwelle liegt bei 95 Prozent.
Ein boomender Markt
Ein Impfstoff ist ein Medikament wie jedes andere. Seine Entwicklung ist langwierig, komplex und kostspielig und erfordert fortgeschrittenes Know-how, ausgefeilte Ausrüstungen und erhebliche Investitionen: Im Allgemeinen muss man mit acht bis achtzehn Jahren und einer durchschnittlichen Investition von schätzungsweise 800 Millionen Euro rechnen. Aus all diesen Gründen konzentriert sich das Geschäft hauptsächlich auf die vier historischen Akteure GSK, Merck&Co, Pfizer und Sanofi, die zwei Drittel des derzeitigen Umsatzes, d. h. etwas mehr als 27 Milliarden Euro, auf sich vereinen. Bemerkenswert ist, dass seit einigen Jahren, und verstärkt in den letzten Monaten, Biotech-Unternehmen in dieses strategische Segment drängen. Sie sind agiler, verfügen jedoch nicht über die gleiche finanzielle Basis und technische Expertise wie die traditionellen Pharmakonzerne, die dazu tendieren, die vielversprechendsten unter ihnen zu erwerben oder Partnerschaften mit ihnen einzugehen. Außerdem ist anzumerken, dass Europa der größte Impfstoffproduzent ist (76 %), weit vor Nordamerika (13 %) und Asien (8 %). Diese Vormachtstellung zeigt sich darin, dass die europäischen Unternehmen jährlich zwei Milliarden Euro in die Forschung und Entwicklung investieren; das sind 71 Prozent der internationalen Anstrengungen2.
Angetrieben durch die steigende Nachfrage und den medizinischen Fortschritt wächst der Weltmarkt exponentiell. Laut Alcimed3 könnte sein Wert 2025 fast 80 Milliarden Euro erreichen, verglichen mit 26 Milliarden Euro 2011. Die Einführung von Impfprogrammen in den Entwicklungsländern, das Aufkommen von therapeutischen Impfstoffen und die allgemeine Verbreitung neuer Verabreichungsformen werden die drei Haupttreiber der angekündigten Veränderung sein. Die Auswirkungen im Zusammenhang mit den zukünftigen Impfstoffen gegen Covid-19, die noch nicht miteingerechnet sind, könnten diese Zahl noch weiter erhöhen.
Von Infektionskrankheiten…
Trotz regelmäßiger Fortschritte gibt es gegen einige Infektionskrankheiten noch immer keinen zuverlässigen Impfstoff. Dazu zählen auch die beiden tödlichsten von ihnen - Malaria und AIDS4. Nachdem es lange Zeit überhaupt keinen Malaria-Impfstoff gab, wurde der erste vor fünf Jahren zugelassen. Obwohl er in den am stärksten betroffenen Ländern des afrikanischen Kontinents umfassend verabreicht wurde, war sein Erfolg begrenzt. Für HIV hingegen bestehen große Hoffnungen. Ein Forscherteam von Scripps Research in San Diego5 hat einen experimentellen Impfstoff entwickelt, der in der Lage ist, neutralisierende Antikörper gegen mehrere Stämme des Virus zu produzieren. Dieses ehrgeizige Projekt, das an Kaninchen validiert wurde, soll bald auf den Menschen übertragen werden.
Wie das neue Coronavirus zeigt, stellen Infektionen durch wiederkehrende oder neu entstehende Viren die größte Herausforderung in der Impfstoffforschung dar. Ebola ist zweifellos eins der virulentesten unter ihnen, mit einer durchschnittlichen Todesfallrate von rund 50 Prozent (in einigen endemischen Regionen hat sie mitunter 90 Prozent erreicht). Im November 2019 wurde ein erster präventiver Impfstoff zugelassen, der jetzt für Erwachsene über 18 Jahre empfohlen wird. Es bestehen zwar noch Zweifel hinsichtlich der Dauer der induzierten Immunität, aber seine klinische Wirksamkeit liegt immerhin zwischen 65 und 100 Prozent. Dies ist ein hohes Niveau, das aber immer noch nicht ausreicht. Das Problem ist, dass er nur gegen einen einzigen Stamm, den sogenannten Zaire-Stamm, gerichtet ist. Das Gleiche gilt für den zweiten Impfstoff dieser Art, der im letzten Sommer für Erwachsene und Kinder ab einem Jahr zugelassen wurde. Bald könnte eine dauerhafte Lösung gefunden werden. Amerikanische Forscher6 stellten kürzlich präklinische Ergebnisse über einen neuen universellen rekombinanten Impfstoff vor, der gegen die vier Stämme wirksam ist, die den Menschen infizieren können.
… zu chronischen Krankheiten
Sowohl im präventiven als auch im kurativen Bereich fehlt es nicht an Impfstoffperspektiven, insbesondere in der Onkologie. Mehrere prophylaktische Impfstoffe ermöglichen es bereits, das Auftreten von Leber- und Gebärmutterkrebs teilweise oder vollständig zu verhindern. Diese Impfungen ermöglichen zwar keine direkte Behandlung dieser Erkrankungen, tragen aber zum Schutz der Bevölkerung bei, denn sie schützen sie vor den potentiell tödlichen Folgen von Hepatitis B und humanen Papillomviren, zumindest in ihrer kritischsten Form (HPV 16 und 18 sind für 70 Prozent der Tumoren und präkanzerösen Läsionen des Gebärmutterhalses verantwortlich). Noch überraschender ist, dass die Impfung indirekt mit der Heilung verschiedener Krebsarten in metastasierten Stadien, einschließlich Lungenkrebs, assoziiert sein könnte. Ein französisches Forschungsteam7 hat einen Wirkmechanismus identifiziert, der bei Verwendung eines Impfstoffs, der normalerweise gegen Gastroenteritis empfohlen wird, die Resistenz gegen Immuntherapien verringern kann. Im Kombination mit einer konventionellen Immuntherapie ist dieser Impfstoff in vitro in der Lage, den immunogenen Tod von Krebszellen herbeizuführen, und provoziert in vivo eine starke Anti-Tumor-Immunantwort, wo die Therapie allein nicht wirksam war. Dieser innovative Ansatz, der in Tiermodellen getestet wurde, könnte vielen Patienten zugutekommen (die Immuntherapie wirkt nur bei 10-25 Prozent der Fälle).
Auf breiterer Basis werden chronische Krankheiten zu einem eigenständigen Forschungsgebiet. Ein anderes französisches Team arbeitet derzeit an der Entwicklung eines Impfstoffs, der die Zusammensetzung und Funktion des Darmmikrobioms verändern könnte8. Beim Test an Mäusen soll dieses Mittel eine schützende Wirkung gegen chronisch entzündliche Krankheiten, beispielsweise Morbus Crohn, sowie Diabetes oder Fettleibigkeit gehabt haben. Nach Ansicht der Autoren dieser Studie ist die angewandte Strategie beim Menschen durchaus denkbar.
Die Versprechungen der Technologie
Als echter Teilchenbeschleuniger wird die technologische Revolution die laufenden Umwandlungen verstärken. Weit über Covid-19 hinaus steht eine neue Generation von Impfstoffen kurz vor der Entwicklung. Nach Ansicht von Experten hat die so genannte mRNA-Technologie viele potenzielle Anwendungen gegen verschiedene Krankheiten, darunter auch Krebs. Diese Art von Produkten könnte sich als schneller in der Entwicklung, billiger in der Herstellung, aber vor allem als wirksamer und sicherer erweisen. Eine weitere Verbesserung wird darauf beruhen, dass der digitale Fortschritt einen erheblichen Einfluss auf die Herstellungsprozesse von Impfstoffen haben wird. Diese strukturelle Entwicklung wird dazu beitragen, die Produktionskosten zu senken und gleichzeitig die Produktivität der Anlagen zu verbessern. Überall auf der Welt investieren große Pharmaunternehmen massiv in die Schaffung flexibler, digitalisierter Standorte, die den Anforderungen der Industrie 4.0 entsprechen.
Einige innovative Verfahren könnten auch dazu beitragen, ihre Verbreitung in der Öffentlichkeit zu fördern. Eine Partnerschaft zwischen der internationalen GAVI-Allianz und dem Londoner Start-up Simprints zielt darauf ab, die Verfolgung von Kinderimpfungen in Entwicklungsländern zu verbessern, indem die Identifizierung von Kindern anhand ihrer Fingerabdrücke erleichtert wird. Die gesammelten Daten sollen in eine schnell zugängliche elektronische Krankenakte einfließen. Nach ersten Tests in Bangladesch, Sambia, Nepal und Benin soll die von dem britischen Sozialunternehmen entwickelte biometrische Erkennungstechnologie eine optimale Effizienz (99 %) gezeigt haben. Nach Angaben von GAVI können derzeit 20 Millionen Kinder nicht geimpft werden, weil sie keine offizielle Identität haben.
Impfungen sind universell und zeitlos und stellen einen der wichtigsten Wege für Fortschritte im öffentlichen Gesundheitswesen und in der nachhaltigen Entwicklung dar. Dank einer starken Innovationsdynamik stellen sie auch eins der besten Versprechen der modernen Medizin dar. Candriam ist ein sachkundiger Beobachter und will die Initiativen unterstützen, die für die Gemeinschaft am relevantesten und hilfreichsten sind. Die Firma stützt sich auf ein Netzwerk kompetenter Experten, um die Unternehmen zu identifizieren, zu begleiten und zu fördern, welche die Lösungen von morgen hervorbringen werden.
Covid-19: ein Schulbeispiel
Covid-19 fasst alle Herausforderungen im Zusammenhang mit Impfungen zusammen, die durch die Gesundheitskrise noch verstärkt werden. Seit zehn Monaten setzen Forscher auf der ganzen Welt alles daran, eine wirksame Behandlung zu finden, und wenden sich dabei neuen Entwicklungsmethoden zu, um Zeit zu sparen.
Weniger als ein Jahr nach dem Auftreten der ersten Fälle in China befinden sich heute rund dreißig Impfstoffkandidaten in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase. Die chinesischen und russischen Impfstoffe sind die einzigen, deren klinische Daten noch nicht von der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft validiert wurden. Die besten Erfolgschancen liegen in den USA, wo zwei Pharmakonzerne - Moderna und Pfizer* - Ende November bei der FDA einen Zulassungsantrag eingereicht haben. Es bleibt abzuwarten, wie schnell die Gesundheitsbehörden die Daten prüfen und entscheiden werden, ob sie die Zulassung erteilen oder nicht. Dann kommen die Phasen der Produktion und des Vertriebs großer Mengen. Sobald der kostbare Impfstoff verfügbar ist, werden zunächst wahrscheinlich bestimmte Bevölkerungsgruppen privilegiert, die entweder besonders anfällig oder aber nützlich für die Allgemeinheit sind, wie beispielsweise ältere Menschen, chronisch Kranke, medizinische Fachkräfte oder Berufe, die das reibungslose Funktionieren der öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten. Angesichts der hohen Unsicherheit ist es unmöglich, irgendwelche Fristen anzugeben.
Eins ist sicher: Die öffentliche Akzeptanz wird ein grundlegender Parameter für die Eindämmung der Pandemie sein. Die WHO, die sich mit großem Engagement für die Bekämpfung von Fehlinformationen einsetzt, wird auf die Unterstützung einiger beliebter digitaler Plattformen zählen können. Zwei Initiativen verdienen es, hervorgehoben zu werden: Die Facebook-Gruppe verbietet ab jetzt in all ihren Medien Anti-Impf-Werbung und YouTube entfernt systematisch alle irreführenden Videos über den künftigen Impfstoff.
* Der Impfstoff von Pfizer wurde gemeinsam mit dem deutschen Unternehmen BioNTech entwickelt.
Auf dem Weg zu neuen therapeutischen Ansätzen
Der medizinische Fortschritt vervielfacht die Möglichkeiten. In den letzten Jahren haben neue Techniken die Entwicklung von Produkten erleichtert, die nicht nur wirksamer, sondern auch sicherer sind. Unter ihnen bieten Gentechnik, rekombinante Vektoren, umgekehrte Impfstoffentwicklung und chimäre Impfstoffe die besten Erfolgschancen. Die beiden letztgenannten Verfahren wurden erfolgreich zur Entwicklung von Impfstoffen gegen Dengue-Fieber und invasive Infektionen durch Meningokokken vom Typ B eingesetzt.
Wirkstoffverstärker, sogenannte Adjuvantien, die häufig im Kreuzfeuer der Kritik stehen, ermöglichen es, je nach Zielmikroorganismen die induzierte Immunantwort zu verstärken oder zu steuern. Lipidische Adjuvantien, die lange Zeit auf Aluminium basierten, eröffnen heute neue Perspektiven. Der Beweis: Seit kurzem werden sie bei der Zusammensetzung von Impfstoffen gegen Papillomvirusinfektionen oder Gürtelrose verwendet.
Es werden noch weitere bedeutende Entwicklungen erwartet, um die Verabreichungsarten zu variieren, beispielsweise mit transdermalen Pflastern oder über die Schleimhäute (oral, nasal, sublingual, rektal oder vaginal). Diese neuen Impfrouten, die teilweise bereits existieren, stimulieren die Immunantwort und verbessern den Patientenkomfort.
Eine weitere große Herausforderung besteht darin, dass zur Optimierung von Impfungen unweigerlich der Einsatz neuer, zunehmend personalisierter Impfstrategien erforderlich ist. Bevorzugte Zielgruppen sind neben schwangeren Frauen vor allem ältere Menschen sowie Patienten mit Immunschwäche oder dem Risiko, sich mit einem therapieassoziierten Erreger zu infizieren. Dazu könnten einige bahnbrechende Innovationen beitragen, angefangen bei einem neuen Grippeimpfstoff, der viermal mehr Grippeviren enthält als die herkömmliche Version (60 mg anstelle von 15 mg). Er ist derzeit in Nordamerika erhältlich und wird für die Impfung von Menschen über 65 Jahren verwendet.
[1] Zwischen 2016 und 2019 ist die Zahl der gemeldeten Masernfälle um 476 Prozent gestiegen (Quelle: WHO).
[2] Quelle: Vaccine Europe
[3] „Le marché mondial du vaccin en mutation : des technologies innovantes aux vaccins thérapeutiques“, Alcimed (März 2016).
[4] Im vergangenen Jahr starben 1,2 Millionen Menschen an Tuberkulose und 770.000 Menschen an HIV-bedingten Krankheiten (Quelle: WHO).
[5] „Vaccination with Glycan-Modified HIV NFL Envelope Trimer-Liposomes Elicits Broadly Neutralizing Antibodies to Multiple Sites of Vulnerability“, Scripps Research (November 2019).
[6] „A Bivalent, Spherical Virus-Like Particle Vaccine Enhances Breadth of Immune Responses against Pathogenic Ebola Viruses in Rhesus Macaques“, Cincinnati Children's Hospital Medical Center (April 2020).
[7] „Repurposing rotavirus vaccines for intratumoral immunotherapy can overcome resistance to immune checkpoint blockade“, Centre de Recherche de Cancérologie de Lyon / Centre Léon Bérard / Gustave Roussy (Oktober 2019).
[8] „Flagellin-elicited adaptive immunity suppresses flagellated microbiota and vaccinates against chronic inflammatory diseases“, Institut Cochin (Dezember 2019).