Anleger aufgepasst: Vorsicht bei ESG-Fondsratings

Mal angenommen, Sie sollen ein Portfolio aufbauen, wobei Nachhaltigkeit eines Ihrer Haupt-Anlageziele ist. In welches der folgenden beiden Unternehmen würden Sie dann lieber investieren? (a) Tomra, ein norwegisches Maschinenbauunternehmen, das die Sammlung von Plastik- und Glasflaschen zu Recyclingzwecken ermöglicht, oder (b) Altria, einen multinationalen US-Konzern, der Tabak- und Nikotinprodukte herstellt? Wenn Sie einem der führenden Anbieter von ESG-Research folgen, werden Sie lieber in Altria investieren, denn dieser Konzern bekommt ein besseres ESG-Rating als Tomra.

ESG-Fondsratings erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, und mehrere führende ESG-Datenanbieter haben ihr eigenes Rating ins Leben gerufen. Doch werden eigentlich die Methodik und die Daten, auf denen diese Ratings basieren, von den Anlegern in ausreichendem Maße unter die Lupe genommen?

Seit nun schon mehreren Jahren nimmt die Nachfrage der Anleger stetig zu, dass ihre Fondsmanager ESG-Faktoren berücksichtigen. Die COVID-19-Krise liefert weitere Impulse dafür, was sich an den positiven Kapitalzuflüssen zeigt, die zahlreiche ESG-Fonds seit Jahresbeginn verzeichnet haben. Zugleich sind ESG-Fondsratings durch die als solche empfundene Komplexität und den für nachhaltige Anlagen prägenden Mangel an Standards attraktiver geworden. Abgeleitet sind diese Ratings von den gleichen Grundsätzen, die Fondsratings so beliebt gemacht haben, und sie dienen als Instrument, das es Anlegern ermöglicht, ihre Auswahl bei zuweilen Hunderten von potenziellen Fonds schnell einzuengen.

Allerdings wäre es irreführend, eine Parallele zwischen ESG-Ratings und Fondsratings zu ziehen. Fondsratings basieren in der Regel auf einer quantitativen Analyse der historischen risikobereinigten Renditen von Fonds. Diese risikobereinigten Renditen können zwar mit unterschiedlichen Methodiken berechnet werden. Sämtliche Methodiken sind aber eher in der Portfoliomanagement-Theorie verankert. Als Ausgangsdaten dienen in der Regel die historischen Wertpapier-Schlusskurse an einem geregelten Markt oder von einer namhaften Stelle, bei der Wertpapierkurse zusammengeführt werden. Diese Daten können als unzweideutig, objektiv und für tausende Wertpapiere standardisiert angesehen werden.

ESG-Ratings hingegen sind auf eine große Menge von quantitativen sowie auf Erzählungen beruhenden Offenlegungen von Unternehmen angewiesen, damit sie überhaupt berechnet werden können. Und wenn keine Daten offengelegt werden, greifen sie oft auf Schätzwerte zurück.

Erstens gibt es keinen globalen Standard, der definiert, was im ESG-Rating eines bestimmten Unternehmens mit berücksichtigt werden sollte. Jeder Anbieter von ESG-Ratings trifft seine eigene Entscheidung, ausgehend von seiner Beurteilung, wie wesentlich die einzelnen Themen seiner Ansicht nach für die einzelnen Sektoren sind. Sehen wir uns doch als Beispiel den Fall Boohoo an. Zwei der größten ESG-Ratingagenturen gaben diesbezüglich unterschiedliche Risikobeurteilungen ab – die eine stufte das Unternehmen hoch ein, die andere stufte es hingegen als mittleres Risiko ein, bevor das Unternehmen seiner schlechten Arbeitsmethoden wegen der Öffentlichkeit bekannt wurde.

Es gibt bereits Versuche, die Liste der zu betrachtenden ESG-Themen zu standardisieren, beispielsweise die vom Sustainable Accounting Standards Board (SASB) entwickelte Materiality Map oder die von der Global Reporting Initiative (GRI) und anderen Seiten geschaffenen Standards für die Berichterstattung. Die meisten Anbieter von ESG-Ratings definieren für die Berechnung ihrer Wertungen bislang allerdings noch ihre eigene Wesentlichkeitsmatrix.

Dann stellt sich für jedes ESG-Thema noch die Frage, wie es durch Messungen zu bewerten ist. Gehen wir doch mal davon aus, dass der Klimawandel als für ein bestimmtes Unternehmen relevant angesehen wird. Wie bewertet man das Ausmaß, in dem das Unternehmen dem komplexen Thema Klimawandel ausgesetzt ist? Durch die Messung seiner Emissionen von Treibhausgasen? Wenn ja, sollte man dabei auch die Emissionen der Rohstofflieferanten des Unternehmens oder die durch den Gebrauch oder Verbrauch der Produkte des Unternehmens entstehenden Emissionen (als Scope-3-Emissionen bezeichnet) mit berücksichtigen?

Und sollte eine Ratingagentur von den eigenen Treibhausgas-Emissionen eines Unternehmens auch die Emissionen abziehen, deren Vermeidung die Produkte des Unternehmens bei einem anderen Unternehmen ermöglicht haben? Ein Beispiel: Angenommen, ein Stahlproduzent liefert die Masten, die einem Energieversorger den Aufbau von Windkraftanlagen ermöglichen. Wird der Stahlproduzent dadurch nachhaltig, obwohl die Stahlproduktion eine der Wirtschaftsaktivitäten mit der höchsten Kohlenstoff-Intensität weltweit ist?

Nach der Beschäftigung mit den Fragen, was bei einem ESG-Rating mit zu berücksichtigen ist und wie es durch Messungen zu bewerten ist, stellt sich dann noch die Frage der Verfügbarkeit von Daten. Es gibt zwar Versuche, bestimmte ESG-Offenlegungen zur Pflicht zu machen sowie ein gemeinsames Format für Offenlegungen zu definieren. Derzeit existiert allerdings kein von Unternehmen akzeptierter globaler Standard, der ihnen die Offenlegung bestimmter Daten vorschreibt. Derartigen Standards am nächsten kommen Initiativen wie beispielsweise das SASB, die Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) und die GRI, oder das Carbon Disclosure Project (CDP), welches Daten über die von Unternehmen verursachten Treibhausgasemissionen weltweit erfasst. Allen diesen Anstrengungen zum Trotz: Einem vom US-Rechnungshof (Government Accountability Office) kürzlich veröffentlichten Bericht zufolge fehlt es ESG-Offenlegungen noch immer an Detailliertheit, Konsistenz und Vergleichbarkeit.

Die „Materiality Map“ des SASB enthält 26 mögliche ESG-Themen, mit Hunderten von zugrunde liegenden ESG-Datenpunkten. Die Breite und Tiefe der von diesen Daten gelieferten Informationen über Unternehmen erklärt, warum die meisten Anleger der Notwendigkeit einer Integration von ESG zustimmen. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Frage, welche Informationen zu berücksichtigen sind und wie diese in Anlageentscheidungen integriert werden sollten. Jedes ESG-Fondsrating stellt nur einen einzelnen Versuch zur Beantwortung dieser Fragen dar und reiht sich ein in die Vielzahl der möglichen Kombinationen aus verfügbaren oder geschätzten ESG-Daten.

Unser eingangs beschriebenes Beispiel mit Tomra und Altria zeigt, wie auch schon der Fall Boohoo: Wenn ein anderer führender Anbieter von ESG-Ratings zum Einsatz gekommen wäre, hätte dies zur genau entgegengesetzten Anlageentscheidung geführt, da Tomra das bessere ESG-Rating bekommen hätte. Diese Diskrepanz zwischen den Meinungen von ESG-Analysten spricht aber nicht gegen ESG-Ratings als solche. Vielmehr unterstreicht sie noch einmal, dass sich Anleger über die zugrunde liegenden Methodiken für ESG-Ratings im Klaren sein müssen, auch über ihre Stärken und Grenzen.

Nicht genug damit, dass ESG-Fondsratings Fragen zur Datenkonsistenz von Anbieter zu Anbieter aufwerfen, erfassen sie auch nur einen Teil der Referenzen eines Fonds im Bereich ESG. Wichtige Aspekte im Zusammenhang damit, wie der Fondsmanager in den Dialog mit den Unternehmen tritt, das bisherige Verhalten bei Abstimmungen, oder ob bestimmte Sektoren ausgeschlossen sind, werden durch Beurteilungen für ESG-Fondsratings meist nicht berücksichtigt.

Diese Ratings sind unvollständig, oder sie können gar in die Irre führen, wenn Anleger sie als umfassende Darstellung der Nachhaltigkeits- oder ESG-Referenzen von Fonds auslegen. Es ist also sehr wichtig, dass Anleger diese Grenzen erkennen.

  • David Czupryna
    David Czupryna, CFA 
    Senior Portfolio Manager

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